Ja, hier werden Kinder geschlagen

Hallo liebe Leute,

heute wollte ich mich einmal einem etwas ernsteren Thema widmen: Wie bereits im Titel erkennbar und von mir bereits vorher eher nebenbei erwähnt, ist es hier an der Schule eine gängige Unterrichtsmethode, die Kinder zur Strafe für ihr Fehlverhalten mit einem dünnen Stock zu schlagen. Das klingt schlimm und natürlich ist es das auch. Jedoch ist es wirklich schwierig, dieses Verhalten von Deutschland aus zu beurteilen – gerade bei der deutschen Reisegruppe, die wir kurz begleiteten, habe ich ein großes Unverständnis, was ja irgendwie selbstverständlich ist, und die Neigung, den Schwestern Vorwürfe zu machen, festgestellt: „Wie scheinheilig kann man denn sein, sich als gläubige Christen zu bezeichnen, von Nächstenliebe zu predigen und Kinder zu schlagen?“ „Warum unternehmen die Religionen, die von Kinderrechten predigen, nichts gegen dieses offensichtliche Übel, sondern kneifen mal eben beide Augen zu? Was für eine Doppelmoral!“ „Eure Aufgabe als deutsche Freiwillige hier, muss es doch sein, zu zeigen, dass ein solches Verhalten menschenverachtend ist und wie man es besser machen kann!“ – und diese Aussagen sind nur teilweise überspitzt dargestellt. Aufgewachsen in Deutschland oder einer westlichen Kultur gelangt man natürlich schnell zu diesen Schlüssen, dabei ist es wichtig, ein Verhalten erst zu verstehen, bevor man es beurteilt oder zu wissen meint, was man besser machen sollte. Nicht falsch verstehen: Ich bemühe mich hier keinesfalls darum, das Schlagen zu rechtfertigen, sondern vielmehr, zu einem etwas differenzierteren Blick anzuregen.

Zuerst einmal: Woraus besteht dieses ominöse „Schlagen“ hier eigentlich? In den meisten Fällen wird der Stick als Drohgebärde angewandt (ja, ich weiß – hier gelangt man schnell in den Bereich der psychischen Gewalt), die heftigsten Schläge werden meistens auf den Tisch ausgeübt, um mit dem lauten Geräusch für Ruhe zu sorgen.  Wenn er dann tatsächlich gegen ein Kind zum Einsatz kommt, läuft es größtenteils so ab, dass die Schüler ihre Handfläche darbieten, und einen Schlag auf den mittleren Teil ihrer Finger erhalten. Selten scheint dieser wirklich weh zutun, aber hier gibt es natürlich Ausnahmen, die ich nicht unter den Teppich zu kehren gedenke: Gerade wenn von Seiten der Schwestern Emotionen mit dabei sind, oder Sr. Agostina, die Schulleiterin und unsere Vorgesetzte, am Werk ist, wird auch mal mehr Kraft aufgewandt, die Kinder verziehen schmerzhaft getroffen ihr Gesicht oder wimmern. Ich finde das schrecklich und muss in solchen Situationen, unmittelbar mit der eigenen Hilflosigkeit konfrontiert, nichts dagegen unternehmen zu können, auch wenn ich direkt daneben stehe, meinen Blick abwenden. Dennoch möchte ich betonen, dass diese brutalen Fälle Ausnahmen sind. Hauptsächlich dient der Stick in der Hand einer Schwester als Zeichen der Autorität, wodurch bereits eine Stimmung erzeugt wird, die seine eigentliche Benutzung selten nötig macht. Auch das finde ich persönlich nicht gut, keine Frage: Von einem derartig autoritären System, welches, wenn schon keine körperliche Gewalt angewandt wird, stattdessen psychische benutzt, um Disziplin zu erzeugen und die Lernmotivation auf Angst fruchten lässt, bin ich definitiv kein Fan, ich empfinde es als regressiv, brutal und natürlich auch viel weniger zielführend als eine positive Motivationsstrategie. So sehe ich das, die ich mein ganzes Leben lang in Deutschland sozialisiert wurde.

Aber weshalb kommt diese Tradition immer noch zur Anwendung, könnte man sich vielleicht fragen, „wir Deutschen“ haben es ja auch geschafft, uns davon fortzuentwickeln, was vor 50 Jahren auch bei uns nach gang und gäbe war. Erstens ist auch Indien in dieser Änderung begriffen: Offiziell ist es bereits verboten, und gerade in größeren Städten auf öffentlichen Schulen beginnen, andere Methoden eingesetzt zu werden. Bis das nach Puthupaddy, unserem kleinen Dorf, durchgedrungen ist und sich in den Köpfen der Leute festgesetzt hat, wird es aber noch dauern. Deshalb sollte man aber nicht dazu übergehen, die Lehrer, die dieser Tradition nachgehen, zu verurteilen. Denn diese sind eben zu einem Großteil in indischen Dörfern sozialisiert, wo die Lebensrealität doch anders aussieht als bei uns. Und selbst wenn sie Zweifel an den Methoden äußern, ist der Druck vonseiten der Eltern unglaublich groß. Wer in Deutschland auf einem Dorf lebt, kennt vielleicht eine milde Variante dessen, was hier zu seiner Höchstform aufläuft: Jeder überwacht jeden und weiß über das Leben eines jeden Bescheid. Auch dieses Denken ist tief in der indischen Kultur verwurzelt, die im Gegensatz zu unserer nicht auf Individualismus sondern auf purem Gemeinschaftsdenken fußt. Ohne vorschnell urteilen zu wollen, würde ich auch vorsichtig vermuten, dass dieser kulturelle Unterschied das Schlagen ebenfalls bestärkt, da das Leiden des Einzelnen eventuell weniger zählt. Stattdessen beruht das System zu einem viel größeren Teil als bei uns auf Disziplin und dieses Denken geht nach der Schule weiter. Wer nicht in der Lage ist, diszipliniert zu arbeiten, hat in der Gesellschaft kaum eine Chance und das soll bereits in der Schule vermittelt werden. Das wissen natürlich auch die Eltern, und ein Lehrer, der sich gegen das Schlagen stellt, gefährdet somit den Ruf seiner Schule, die Kinder richtig zu erziehen und ihnen wichtige Werte zu vermitteln. Außerdem sei gesagt, dass viele es nicht einmal anders kennen und die Kinder, sobald sie diese Strafe einmal anerkannt haben, kaum anders zu bändigen sind.

Eine positive Nachricht habe ich trotzdem: Selma, Louis und ich haben nun ein Belohnungssystem angefangen, welches zumindest in den älteren Klassen recht gut fruchtet: Zu Beginn der Stunde zeichnen wir ein „Silence Heart“ mit Kreide an die Tafel, welches wir direkt ausmalen. Sind die Schüler zu laut, wischen wir oder ein von der Klasse gewählter „Silence keeper“ ein Stück des Herzes weg, sind sie leise, wird es wieder gefüllt. Sollte das Herz zu Ende der Stunde voll sein, machen wir etwas schönes zusammen, spielen also beispielsweise ein Spiel. Mit unserem System wollen wir zeigen, dass es auch andere Wege gibt, bemühen uns aber gleichzeitig, die Schwestern nicht für ihr Verhalten zu verurteilen. In ihren Unterricht einzugreifen oder uns gar anzumaßen, ihnen zu erklären, wie es „besser“ ginge, liegt definitiv nicht in unseren Kompetenzen und würde ein sehr schiefes Machtverhältnis voraussetzen.

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2 Kommentare zu „Ja, hier werden Kinder geschlagen“

  1. Liebe Marie,

    ich habe soeben Deinen Blog gelesen und ich finde sehr gut, was Du schreibst. Wirkliche Veränderungen gehen leider immer nur sehr langsam. Aber Euer Silence Heart ist eine wirklich großartige Idee. Kriegen die Schwestern mit, dass ihr so etwas macht?
    Hättet ihr überhaupt die Gelegenheit, das Thema „Schlagen“ oder Schläge androhen“ mit den Schwestern zu besprechen (vielleicht als Gruppe zu dritt)?

    So oder so, dieser Blog hat mir diesmal besonders das Herz gewärmt, danke dafür!

    Mama

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    1. Hallo Mama!
      Wir hatten vor, noch einmal mit Sister Agostina über unser Silence Heart zu sprechen – ein Stück weit notgedrungen, weil sie uns letztens erst gesagt hat, dass wir nicht öffentlichh mit den Kindern spielen sollen, da sie darüber viele Beschwerden von Seiten der Eltern hört, die meinten, ihre Kinder würden hier nicht ordentlich lernen und wir wären ein schlechtes Vorbild in puncto Disziplin – ich habe es jetzt vielleicht etwas hart ausgedrückt, aber du verstehst hoffentlich, welche Richtung ich meine. Auch wenn es nicht vor den Eltern ist, haben wir uns daher bisher damit zurückgehalten vor ihren Augen Spiele anzufangen, damit es nicht so wirkt, als würden wir ihre Autorität missachten, was man vielleicht so verstehen könnte. Wir wissen aber natürlich, dass diese Geheimniskrämerei keine Lösung ist und hatten deshalb zeitnah vor, das zu thematisieren. Das Gespräch mit den Schwestern übers Schlagen war bisher begrenzt auf „Wir schlagen nicht.“ „Ok, solange ihr sie irgendwie anders zumindest teilweise unter Kontrolle bekommt.“ Das ließe sich vielleicht noch ausweiten, aber man sollte wirklich behutsam an das Thema herangehen – wie gesagt, erstens kennen sie keine anderen Möglichkeiten, zweitens gibt es einen enormen Druck von außen.

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